Donnerstag, 15. April 2010

Interview zum renovier- und erneuerungsbedürftigen Gesundheitswesen

Klaas Nannen, unser Ressortleiter Gesundheit stellte Heike S. aus Leipzig einige Fragen. Frau S. ist ausgebildete Arzthelferin und in Leipzig in der Praxis ihres Ehemannes Dr. Michael S tätig.

Klaas Nannen: Was mich stört ist die Intransparenz im Gesundheitswesen. Die Menschen werden mit Informationen zugeschüttet und aufgrund der Vielfalt ist es schwierig bis unmöglich überhaupt zu differenzieren. Es wird versucht zu suggerieren, dass unser Gesundheitswesen perfekt sei, was natürlich keinesfalls stimmt. Denn in der Medizin sowie in allen Bereichen des täglichen Lebens ist ein fließender Prozess Grundlage für unser Handeln.

Heike S.: Das Gesundheitswesen wird sich so, wie es jetzt läuft, nicht bessern. Der alte Murks geht weiter. Vorgaukeln kann man den Menschen, den Patienten, nichts. Jeder, der im Bilde ist, weiß worum es geht und was da läuft. Zum Staunen kommt man allerdings, wenn in den Nachrichten gebracht wird, dass die Krankenkassen Millionen eingenommen haben, aber diese trotzdem verschuldet sind und der Beitrag erhöht werden muss.

Ich persönlich fände es gut, wenn es nur eine Krankenkasse gäbe. Man spart da sehr viel Geld, was man z.B. für Forschung und Entwicklung ausgeben könnte. Fast jedes Krankenhaus, was forscht und Studien betreibt, ist von Spenden abhängig.

Desweiteren bin ich dafür, dass man die Privatkassen abschafft. Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass vieles abgelehnt wird. Für jeden Antrag oder gar Anfrage muss man Gutachten schreiben. Die Privatkassen bezahlen auch nicht alles. Wir verzichten liebend gern auf solche Umstände. Privatpatienten werden bei uns auch nicht bevorzugt. Bei uns sind alle gleich.

Ich finde auch, dass Privatpatienten im Alter nicht optimal versorgt werden können, weil für diese alles zu teuer wird und sie letztendlich kein Geld mehr übrig haben (wegen Beitragszahlung, je älter, umso teurer), um eben alles abzusichern. Die Privaten Krankenkassen sträuben sich regelrecht, etwas zu geben, sei es nur zum Beispiel ein Rollstuhl.

Klaas Nannen: Lobbyisten und Meinungsbildner stören mich, denn diese sind oftmals profitorientiert und somit grundsätzlich im Sinne der Patienten niemals unabhängig. In diesem Zusammenhang meine Frage an Sie: Wie bewerten Sie das Arzneimittel „Zyprexa“. Dieses Neuroleptikum (Lilly) steht in der Kritik. In den USA als Beispiel verpflichtete sich der Hersteller, Patienten zu entschädigen – Volumen hier ca. 1,2 Mrd. Dollar. Wie verhalten sich hier die betroffenen Patienten in Deutschland? Viele Patienten wurden mit diesem Neuroleptikum behandelt, der Hersteller aber bediente sich zweifelhafter Anwenderstudien und verschwieg Nebenwirkungen. Anwendungsgebiete sind psychotische Erkrankungen. Verschwiegene Nebenwirkungen hierbei: Auslöser von u.a. Diabetes mell. und starke Gewichtszunahme.

Heike S.: Was „Zyprexa“ betrifft kann ich dazu nicht viel sagen. Ich habe darüber etwas im Internet nachgeforscht und natürlich in der „roten Liste“ nachgeschaut. Natürlich sollten die Patienten, die auf ein solches Medikament angewiesen sind, auch gründlich über die Risiken und Nebenwirkungen aufgeklärt werden. Das Hauptproblem ist ja die Gewichtszunahme. Man muss aber auch die Seite sehen, dass dieses Medikament auch helfen kann. Der verschreibende Arzt muss nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Man verschreibt normalerweise nicht einfach mal so ein Medikament, sondern macht das vom Patienten und seiner Krankheit abhängig. Kann ich ihm das Medikament geben? Was nimmt er noch für Medikamente? Was sind die Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten?

Der Patient muss ständig zur Kontrolle zum Arzt. Bei Nichtverträglichkeit muss der Arzt es sofort absetzen und ein neues Medikament verschreiben. Leider ist es so, dass man manchmal auch erst sehen und testen muss, wie das jeweilige Medikament wirkt. Jeder verträgt es ja anders. Und ehe man da das richtige gefunden hat, kann es schon etwas dauern.

Ich kann da auch nur von unserer Praxis sprechen, wo nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt und behandelt wird.

Klaas Nannen: Welche unmittelbaren Erfahrungen haben Sie mit der Pharmaindustrie? Naturalrabatte? Anwenderstudien? Fortbildungen zu Lasten der Pharmaindustrie?

Heike S.: Mit der Pharmaindustrie haben wir nichts zu tun. Pharmavertreter kamen schon ewig nicht mehr in unsere Praxis, um da neue Medikamente vorzustellen. Wir haben noch nie über die Pharmaindustrie Fortbildungen angenommen. Wir wurden auch nicht geworben, an irgendwelchen Studien oder Sonstigem teilzunehmen, auch nicht kostenlos in Hotels dafür zu übernachten. Wir würden dies auch nicht annehmen. Für uns gibt es keine Geschäfte mit der Pharmaindustrie.

Klaas Nannen: Grundsätzlich bin ich an allem interessiert und versuche, mich aus verschiedenen Quellen zu informieren und differenziere. Vor kurzem hatte ich eine Freundin gebeten, mich zu unterstützen. Diese wurde als Kind von ihrem Vater sexuell missbraucht und hier wurde eine Borderline Störung diagnostiziert. Ich kümmere mich seit Jahren um sie und versuche, ihr eine Art von Balance zu schaffen. Sie hat eine Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen, wobei ich jedoch das Gefühl hatte, dass die Borderliner sich dort selbst inszenierten. Es mangelte an Respekt voreinander und es fehlte ernsthafte Diskussion. Mitleid war die Folge. Ich möchte gerade bei solchen Opfern eine ernsthafte und faire Diskussion sehen und auch dieses Thema verstärkt in die Öffentlichkeit tragen. Bei solchen Opfern sind Persönlichkeitsstörungen vorhanden, sie sind schwierig zu therapieren und oftmals auch suizidgefährdet.

Heike S.: Borderline ist ein heikles Thema. Es gibt ja verschiedene Arten beziehungsweise Typen von Borderline. Das ist von Patient zu Patient unterschiedlich. Es gibt aber leider auch Patienten, die auf ihrer Krankheit pochen und diese ständig vorschieben. Mitleid darf man nicht zeigen, denn dann haben sie dich sofort und spannen dich für ihre Zwecke ein. Viele sind auch unzuverlässig und nicht willens, etwas dagegen zu tun. Es gibt da auch sehr schwere Fälle von Borderline. Diese Patienten sind ihr ganzes Leben lang auf Hilfe angewiesen. Für mich ist Borderline aber auch ein Gesellschaftsproblem. Borderline hat auch nicht immer mit Missbrauch zu tun.

Gerne können wir uns auch noch über weitere Krankheiten unterhalten.

Klaas Nannen: Ich glaube, wir sollten uns bei Gelegenheit weiter austauschen. Noch einige grundsätzliche Anmerkungen aus meiner Sicht. Es gibt keinen Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen. Das führte dazu und weiterhin, dass kleinere Kassen vom Markt verschwinden. Krankenkassen können meiner Meinung nach nur dann bundesweit agieren und überleben, wenn sie über mindestens 4 Millionen Versicherte verfügen können. Kleinere Kassen müssten sich regional ausrichten, um somit ggf. in pcto. Vertragsrecht regionale Marktmacht zu erlangen. Unter Umständen müssen diese jedoch dann das Krankenhauswahlrecht einschränken.und eventuell Kuren nur noch pauschalisiert bezuschussen. Das heißt, wie bei allen Festbeträgen werden die tatsächlichen Kosten auch hier ignoriert. Es gibt dann halt nur noch einen Festzuschuss.

Bedingt durch den Gesundheitsfond aber erhalten alle Krankenkassen die gleichen Zuschüsse vom morbiden RSA, was dazu führt, dass besonders teure Regionen wie z.B. Berlin werden zunehmend von den Krankenkassen abgelehnt. Ferner fangen Krankenkassen nunmehr an, gleichfalls zu segmentieren, d.h. Risikoprofile, Vorerkrankungen, Alter, Schulbildung werden als Faktoren bewertet.

Eine Krankenkasse wäre nicht intelligent, zumal hier wieder eine Monokultur geschaffen würde. Ich halte 50 Krankenkassen für gut. Es wären grauenhafte Verhandlungen, wenn sich Leistungsanbieter nur mit einem Monopolisten auseinandersetzen müssten.

Sie haben Recht, dass eine Forschung unabhängig sein muss. Und hier wäre es Aufgabe der Krankenkassen, neue Produkte – so wie es der Herr Dr. Sawicki praktizierte – auf Kosten und Nutzen zu untersuchen. Die Krankenkassen finanzieren ja auch den medizinischen Dienst. Hier wäre eventuell auch mehr an kompetenter Qualitätsprüfung erforderlich. Denn der, der bezahlt, muss sich davon überzeugen können, dass neue Produkte dem Patienten mehr Nutzen bringen. Scheininnovationen gibt es zuhauf!

Auch Anwenderstudien sind oft zweifelhaft. Hier beispielsweise im Falle des Wirkstoffs Olanzapin wurde seitens des Herstellers Ely Lilly verschwiegen, dass dramatische Nebenwirkungen vorhanden sind. Die Gewichtszunahme war in vielen Fällen dramatisch: innerhalb von z.B. 8 Wochen nahmen Kinder bis zu 7,5 kg an Gewicht zu. Diabetiker hätten diese Arznei nicht nehmen dürfen, da kontraindiziert. Es wurde wissentlich verschwiegen, dass mit einer Gewichtszunahme und einer möglichen Entwicklung von Diabetes mit Todesfolge zu rechnen sei. Der Hersteller schaffte es zudem, von den vorgegebenen Indikationen abzuweichen, d.h. es wurde im Off-Label-Bereich verordnet, zum Beispiel bei Demenzerkrankungen.

Ich erwähnte vorhin bereits die Schadenersatzsumme von 1,2 Mrd. USD, zu deren Zahlung sich der Hersteller gegenüber der US-Justiz verpflichtete. Aufgrund der Verordnung von Zyprexa im off-label-Bereich (Demenz) verstarben alleine in Deutschland 4000 Menschen aufgrund von Kontraindikation.

Mir geht es darum aufzuzeigen, dass die Anwenderstudien haarsträubend sind, ethische Prinzipien verletzt werden, Risiken und Nebenwirkungen verschwiegen werden, Therapiestandards herabgesetzt werden, nur um Arzneien für möglichst viele Indikationen verschreiben zu können, die aber schwere Schäden verursachen!
Diverse Staatsanwaltschaften in den USA nannten dies beim richtigen Namen: Habgier!

Der Jahresumsatz mit „Zyprexa“ betrug ca. 40 Mrd. Dollar. Gemacht auf Kosten von Menschenleben unter dem krankhaften Marketingmotto: Profite haben Vorrang vor Patienten. Verkauf hat Vorrang vor Sicherheit! Das ist perfide, das ist menschenverachtend.

Zyprexa diente mir nur als Beispiel um klarzumachen, in welchem Umfang zu Lasten der Beitragszahler und zu Lasten der Patienten geschummelt wurde und wird.

Es wäre gut, wenn wir bei Gelegenheit unseren Gedankenaustausch einmal fortsetzen könnten. Ich würde Sie da bitten, so Sie darin Einblick gewinnen können, inwieweit andere Psychiater heute noch Zyprexa verordnen oder andere atypische Neuroleptika mich dies wissen zu lassen. Gerne möchte ich auch erfahren, wie sich Therapien im Falle Borderline entwickelt haben und wie oft noch eine solche Diagnose gestellt wird.

Erst einmal vielen Dank für Ihre freundliche Bereitschaft zu einer Stellungnahme.

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